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Mehr Pflegekinder brauchen eine Familie

Von Jessica Lichetzki, dpa

In Hessen nimmt die Zahl der jüngeren Pflegekinder zu, die Anzahl der Pflegefamilien verharrt aber auf einem Niveau. Was sind die Alternativen?

Arne Dedert/dpa

Die Situation von Pflegekindern spitzt sich nach Aussage von Fachleuten zu. Während mehr jüngere Kinder und Jugendliche auf Hilfe angewiesen sind, stagniert die Zahl der Pflegefamilien in Hessen.

Das Unterbringungsproblem zwingt zu Alternativen: Für einige Kinder bis zu sechs Jahren müssen deshalb betreute Wohngruppen bereitgestellt werden. «Das ist sehr tragisch, weil ein kleines Kind viel besser in einer liebevollen Familie aufgehoben ist», sagt Bertram Kasper vom St. Elisabeth-Verein in Marburg.

Im Jahr 2020 waren laut dem Statistischem Landesamt 4079 Kinder und Jugendliche in Hessen in Pflegefamilien untergebracht. Im Jahr 2013 waren es noch 3585. Aktuellere Daten sind derzeit nicht verfügbar. «Die Zahl der Pflegefamilien ist stabil, allerdings ist der Bedarf in den vergangenen Jahren wegen Kindeswohlgefährdungen generell gestiegen», sagt eine Sprecherin des Ministerium für Soziales und Integration.

Infos über Voraussetzungen und Anforderungen

Jugendämter werben unter anderem mit Flyern für die Aufnahme eines Pflegekindes und informieren über die Voraussetzungen und Anforderungen sowie die Formen der Begleitung. «Die Auswahl, Vorbereitung und Begleitung geeigneter Pflegefamilien ist Aufgabe der Pflegekinderdienste der Jugendämter», heißt es weiter.

Die Stadt Darmstadt bemerkt eine Veränderung der Bedürfnisse im Rahmen der Pflege. «Was sich verändert hat, ist der Bedarf an Begleitung der Pflegeverhältnisse, da die Kinder im Durchschnitt höhere Bedarfe aufweisen als vor zehn Jahren», sagt Bürgermeisterin Barbara Akdeniz.

Laut dem Ministerium für Soziales übernehmen Pflegeeltern eine sehr «verantwortungsvolle Rolle, da sie Kindern eine Ersatz- bzw. Ergänzungsfamilie bieten, wenn die leiblichen Eltern vorübergehend oder dauerhaft nicht in der Lage sind, die Betreuung und Erziehung wahrzunehmen». Wenn es allerdings an Familien fehlt, müssen zumindest kurzzeitig Wohngruppen überbrücken.

Zahl der Babys und Kleinkinder nimmt zu

Diese sind nach Aussage von Bertram Kasper eine Reaktion der Fachwelt auf die angespannte Lage. Betreut werden Kinder, die oft unter sechs Jahre alt sind, im Schichtdienst. «Die Zahl der Babys und Kleinkinder, die nimmt einfach zu», sagt der Sozialarbeiter. Man sei zwar bestrebt, familiäre Strukturen in den Gruppen zu etablieren, eine Familie ersetzen könne dies allerdings nicht. «Das spitzt sich gerade zu, durch die Krise, die wir haben.»

Die Ursachen für die angespannte Lage sind laut Kasper vielfältig. Jedoch spielten die wachsende Armut sowie ungleiche Bildungschancen eine große Rolle. «Das sind die größten Treiber für Entwicklungen, die ungünstig sind für Kinder», sagt Kasper. Die steigenden Energiepreise und eine erhöhte Inflation könnten die Situation weiter verschärfen. «Die Krise ist so komplex und undurchschaubar. Das könnte noch ein Problem werden», so der Sozialarbeiter.

Krise und veränderte Familienmodelle

Das Ministerium für Soziales verweist auf die Undurchsichtigkeit der Situation. «Ob sich die Energiekrise auch auf Kindeswohlgefährdungen auswirkt, die zu einer Herausnahme betroffener Kindes aus dem elterlichen Haushalt führen, lässt sich nicht vorhersagen», heißt es.

Nach den Worten von Kasper ist ein weiterer Faktor, dass sich das traditionelle Modell der Familie verändere. «Es gibt das Modell der «progressive parents», also Eltern, die den Anspruch haben, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen», erklärt er. Man müsse besonders offen für alternative Familienkonzepte bleiben.

Pflegemutter kümmert sich bereits um drei Kinder

Familie Quiring aus Solms nahe Wetzlar betreut bereits drei Pflegekinder und scheut sich nicht davor, ein weiteres Kind aufzunehmen. «Ich weiß sehr wohl, dass die Not sehr groß ist», sagt Barbi Quiring. Die Pflegemutter kümmert sich derzeit um eine Neunjährige sowie um einen Sieben- und Fünfjährigen. Außerdem hat die Familie zwei leibliche Kinder im Alter von 13 und 14 Jahren. «Eltern haben sowieso schon zwei schwierige Jahre hinter sich. Existenzängste, Überforderung mit Kindern 24 Stunden am Tag», sagt Quiring.

Die Pflegemutter blickt ebenfalls sorgenvoll auf die aktuellen Entwicklungen. «Es gibt auch viele Kinder, die derzeit unbegleitet nach Deutschland kommen», sagt sie. Dennoch ermutigt sie andere Familien, Kinder aufzunehmen. «Für uns ist das Schönste zu sehen, wie die Kinder wachsen», erklärt Quiring. Man dürfe dabei nicht vergessen, dass jedes Kind «ein Päckchen» zu tragen habe.

Dennoch überwiegen die schönen Momente. Die Kinder zum Turnen, Reiten oder zum Ballett bringen – das gehört zum Alltag der Quirings. «Das Besondere ist zu sehen, dass meine Tochter selbstbewusst wird und so viele Fähigkeiten meistert», ergänzt Barbi Quiring, die auch regelmäßig an Fortbildungen teilnimmt. Erst kürzlich investierte die hessische Landesregierung knapp eine Million Euro in ein deutschlandweites E-Learning-Projekt, um Pflegeeltern besser zu unterstützen.

Wohnheime für Kinder und Jugendliche findet Barbi Quiring «überhaupt nicht schön». Da es immer wieder zu Personalwechsel komme, könne ein einzelnes Kind gar keine richtige Bindung aufbauen. Und diese sei die Voraussetzung für selbstbewusste Pflegekinder. Sie betont: «Dem Kind auf dem Weg zu helfen, stark fürs Leben zu werden, das ist wichtig.»

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