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Wachsen und wachsen lassen

Von Kerstin Petry

Portrait Kerstin Petry

Es gibt ein Ritual in unserer Familie. Wir messen uns. Nicht im Sport, oder im Schlausein, nein, es ist ganz wortwörtlich gemeint. Gefühlt mehrfach am Tag muss ich mich neben meine Kinder stellen, damit sie die flache Hand von ihrem Kopfansatz in meine Richtung gleiten lassen können. „Siehst du Mama, ich bin schon wieder gewachsen. Heute gehe ich dir bis zum zweiten Knopf deiner Bluse“, heißt es dann zum Beispiel. Dass ich am Tag zuvor eine andere Bluse trug, lasse ich dann dezent unerwähnt.
Naja, lange Zeit fand ich das Messen jedenfalls lustig und kann auch recht gut verkraften, dass die Füße meines 12-jährigen Sohnes schon längst geschafft haben, wonach der restliche Körper so unaufhaltsam strebt. Aber jetzt langsam wird die Sache echt ernst. Denn das Unvorstellbare rückt tatsächlich von Mess-Moment zu Mess-Moment näher. Zurzeit sind mein Sohn und ich gleichgroß und beim Messen versucht jeder von uns, sich klammheimlich ein wenig zu strecken. Aber es lässt sich nicht leugnen: Es dürfte sich nur noch um Tage oder Wochen handeln, bis dieses eben noch so winzige Kind begeistert ruft: „Mama, ich bin größer als du.“
Und dann? Naja, nichts dann, werden Sie sagen. Dann ist es halt so. Aber ich fürchte, ich falle an diesem Tag in eine Nostalgie-Krise, wühle unaufhaltsam in unseren Erinnerungskisten herum und lasse das „da warst du noch klein“-Leben an mir in Form von Videos, Bildern und alten Kleidungsstücken vorüberziehen. Vielleicht ist das auch eine Idee für einen kleinen Racheakt und mein Sohn muss sich das alles mit ansehen. „Guck mal, in diesen Strampler hast du mal reingepasst. Du warst soooo süß.“ (Auf das Wort süß steht ab einem gewissen Alter die Todesblick-Strafe). Schließlich ist ja er derjenige, der diese Wachserei nicht lassen kann. Aber gut, zu Wehmut gehört ja bekanntlich immer auch ein wenig Freude. Darüber, dass die Kinder nicht nur körperlich, sondern auch innerlich immer mehr wachsen, dass sie selbstständiger werden und man wieder mehr Zeit für sich selbst hat. Und dass sie bei aller körperlichen Größe innen drin doch noch ein bisschen klein sind.
Vermessene Grüße,
Kerstin Petry