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Steigende Preise bringen kinderreiche Familien ans Limit

Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

In etwa jeder achten Familie in Deutschland werden drei oder mehr Kinder groß. Wie lebt es sich mit einer Schar an Sprösslingen? Und wie kommen XL-Familien über die Runden, seitdem Lebensmittel und Energie so teuer sind?

Frank Rumpenhorst/dpa

Mutter, Vater, sechs Kinder – geht es zum Einkaufen, ist der Wagen der Großfamilie Nagel immer bis oben hin randvoll. In ihrem XL-Haushalt in Mülheim an der Ruhr in NRW will der Kühlschrank ständig neu gefüllt sein.

Äpfel säckeweise. Eier palettenweise. Milch in Zehnerkartons. Die Spülmaschine läuft dreimal täglich. Der Alltag ist gut organisiert. Das gilt auch für die Familie Vockerath mit sogar neun Kindern aus dem thüringischen Lehesten. Und beide Familien jonglieren finanziell. Die seit Monaten anhaltende Inflation trifft Haushalte mit vielen Kindern überproportional stark.

Großer Preisanstieg bei Lebensmitteln

«Lebensmittel haben den größten Preissprung gemacht», sagt Mario Nagel (46). 2021 reichten 1150 Euro monatlich für Hygieneartikel und Lebensmittel, 2022 brauchte die Familie dafür 1400 bis 1500 Euro. Sie kauft auch im Angebot und dann mal auf Vorrat, zudem auf dem Bauernhof. Dort seien die Preise nicht ganz so stark geklettert. «Gute Ernährung ist uns sehr wichtig, dann drehen wir die Heizung lieber noch weiter runter.» Auf Obst, Gemüse und einige Waren in Bio-Qualität verzichten die Nagels mit einer Tochter und fünf Söhnen zwischen 10 und 16 Jahren nicht.

Mario Nagel arbeitet bei einer Landesbehörde, Marion Nagel ist Grundschullehrerin. «Es geht noch relativ gut mit unseren zwei Vollzeiteinkommen. Aber wir merken, dass alles teurer wird», schildert der Familienvater. Die Schule, in der Marion Nagel tätig ist, liegt in einem sozial benachteiligten Viertel. Dort stellt sie fest: «Die Kinder haben kein Obst und Gemüse mehr dabei. Die Familien haben kein Geld dafür. Und vielen sind auch keine gemeinsamen Aktivitäten mehr möglich», erzählt die 44-Jährige. «Das ist gravierend, das ist Armut. Zumindest bei gesunden Lebensmitteln müssten die Preise dringend gesenkt werden, zum Beispiel über die Mehrwertsteuer.»

Der älteste Sohn Lars (16) begnügt sich im Zimmer mit noch 17 bis 18 Grad. «Früher war ich so ein Experte, der schon mal das Fenster auf Kippe gelassen hat bei laufender Heizung. Jetzt sparen wir alle Energie.» Insgesamt ist die Temperatur im Haus um zwei Grad runtergeregelt. Auch die Waschmaschine läuft bei gesenkter Gradzahl. Der Trockner wird seltener angestellt, berichtet Marion Nagel. Die enorm gestiegenen Spritkosten belasten die Familie nicht so sehr, denn alle sind in dem Ballungszentrum möglichst mit Bus, Bahn und Fahrrad unterwegs.

Zwei Gehälter könnten nicht mehr reichen

Auf dem Land läuft hingegen fast nichts ohne Auto. Der Familie Vockeroth, die ländlich in der Nähe der bayerischen Grenze wohnt, tun die hohen Spritkosten weh, wie Dachdecker- und Zimmermeister David Vockeroth erzählt. Im Einsatz sind ein VW-Bus, den seine Frau Nicole (45) steuert, und ein Crafter, den er mit Busführerschein lenkt. «Im vergangenen Sommer dachte ich noch, es geht uns gut, wir können uns sogar einen regelmäßigen Urlaub leisten. Aber seit der dramatischen Preisentwicklung müssen wir sehr die Zähne zusammenbeißen.» Seine Frau ist Polizeibeamtin, der 54-Jährige selbstständiger Unternehmer. Bisher reichten die zwei Gehälter so gerade. Nun ist es für die Vockeroths – drei Mädchen, sechs Jungen zwischen zwei und 22 Jahren – wirklich eng.

Bei einem sparsamen Einkauf für eine Woche kamen sie früher mit 120 bis 150 Euro für das Allernotwendigste aus. «Jetzt liegen wir weit über 200 Euro.» Sogar Grundnahrungsmittel können aktuell zum Luxus werden: «Joghurt gibt es bei uns noch, wenn der im Angebot ist», bedauert Vockeroth. Die Preise für Musikschule wurden angehoben. Die Eltern möchten sie ihren Kindern aber irgendwie weiter ermöglichen. «Es ist wirklich eine große Herausforderung, jetzt über die Runden zu kommen.»

Rechenbeispiel: Werde ein 1000-Euro-Einkommen auf vier Personen aufgeteilt, ergeben sich pro Kopf 250 Euro, da könne man Preissteigerungen noch einigermaßen auffangen. Müssen die 1000 Euro aber für elf Personen reichen, bleibe bei 90 Euro pro Kopf kein Spielraum zum Sparen. Für eine gesicherte Existenz und ein solides Aufwachsen brauche ein Kind bis zu 1000 Euro im Monat, sagt Vockeroth. «Das sollte es dem Staat und der Gesellschaft wert sein.» Kitas müssten kostenlos werden, das Elterngeld in der Elternzeit stark steigen. Es brauche mehr Anerkennung, denn: «Wir Mehrkindfamilien sichern das Überleben der Gesellschaft.»

Zoo- oder Freizeitpark-Besuch oft zu teuer

Familie Nagel bemängelt Eintrittspreise für Zoo, Theater oder Freizeitparks. «Sogenannte Familienkarten sind in der Regel für zwei Erwachsene und ein oder zwei Kinder», sagt Mario Nagel. «Man überlegt sich schon oft, ob man da noch hingeht.» Urlaub machen die Acht schon seit Jahren auf dem Bauernhof oder sie gehen Wandern – nicht kostenintensiv. Marion Nagel betont: «Es macht große Freude mit vielen Kindern. Schade, dass viele sagen, dass sie keine Kinder wollen.» Ohne Kinder werde es künftig keine Leistungen mehr aus den Sozialsystemen – Krankenversicherung oder Rente – geben. Das Paar fände es fair, das bei aktuellen Berechnungen zu berücksichtigen, etwa mit einem Renteneintrittsalter gestaffelt nach Kinderzahl.

Fakt ist: Neben Kindern in alleinerziehenden Familien sind in Deutschland vor allem Jungen und Mädchen in Mehrkindfamilien armutsgefährdet. Das zeigen Studien immer wieder. Auch zu den Tafeln kommen viele Eltern mit mehreren Kindern, weiß der NRW-Landesverband. Dabei sind Mehrkindfamilien Leistungsträger der Gesellschaft und tragen erheblich dazu bei, dass der Generationenvertrag der solidarisch organisierten Sozialversicherungssysteme funktioniert, wie auch der Verband kinderreicher Familien Deutschland (VKFD) unterstreicht. Es gebe rund 1,3 Millionen Mehrkindfamilien bundesweit – Familien mit drei oder mehr Kindern. Das entspreche etwa jeder achten Familie. Die Politik müsse mehr für sie tun, mahnt VKFD-Chefin Elisabeth Müller.

XL-Familien sind oft mit Vorurteilen konfrontiert, ergänzt Sprecherin Laura Schlichting. «Mal heißt es, sie seien privilegiert, vermögend, leisten sich Nannys für ihre Kinder.» Das andere Klischee laute «Problemfamilien». Beides gehe an der Realität vorbei. «Tatsächlich kommen Mehrkindfamilien aus der Mitte der Gesellschaft und sie brauchen viel mehr Sichtbarkeit und Unterstützung – gesellschaftlich und politisch.»

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