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So (un)gerecht sind Schulnoten

Von Alexandra Stober, dpa

Noten sorgten ursprünglich für mehr Gerechtigkeit, denn sie koppelten die Chance auf Bildung von der Herkunft ab – Aufstieg durch Leistung. Aber sind Zensuren auch heute noch gerecht, objektiv und sinnvoll?

David Inderlied/dpa/Illustration

«Ich habe meine Mathearbeit zurückbekommen.» Welche Frage stellen die meisten Eltern daraufhin? Genau, die nach der Note. Dabei ist wohl den wenigsten bewusst, dass auch sie selbst diese beeinflusst haben – und die Zensur nicht das tatsächliche Können in Mathe widerspiegelt.

«Ich könnte Ihnen zehn Gründe nennen, warum Noten ungerecht sind», sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Doch der ehemalige Schulleiter zieht daraus nicht den Schluss, diese abzuschaffen.

Im Gegenteil: Er ist davon überzeugt, dass sie ein sinnvolles Instrument der Rückmeldung und des Vergleichs sind – wenn man angemessen mit ihnen umgeht. Dazu gehöre etwa, dass man den Schülerinnen und Schülern eine individuelle Rückmeldung zu jeder Note gebe und sie angemessen dabei unterstütze, ihre Kompetenzen weiterzuentwickeln.

Viele Faktoren beeinflussen Notenvergabe

Noten müssen weg – aus verschiedenen Gründen, sagt dagegen der Schweizer Deutschlehrer, Dozent und Autor Philippe Wampfler. «Wie sie zustande kommen, das ist nicht objektiv. Es sind scheingenaue Werte, die durch eine Reihe von Faktoren verzerrt werden.»

Das sei seit 50 Jahren gut empirisch belegt. Wie sehr unterstützen einen die Eltern? Wie ist die Lernsituation zu Hause? Wie kommt man mit der Lehrerin klar? Wie stark sind die Leistungen der anderen in der Klasse? Und auch: In welchem Bundesland geht man auf welche Schule?

Noten werden oft als Bewertung der Person empfunden

Wampfler erklärt, dass regelmäßig drei Arten der Leistungsbeurteilung vermischt würden: Die Stärksten der Gruppe bekommen die besten Zensuren. Oder es wird bewertet, dass ein bestimmtes Qualitätsniveau erreicht wurde. Aber auch der individuelle Fortschritt kann ein Kriterium sein. Zudem würden für das heutige Berufsleben entscheidende Kompetenzen wie Kommunikation oder Teamfähigkeit kaum oder gar nicht benotet.

Aus den so entstandenen Zensuren werde eine nicht sinnvolle Vergleichbarkeit konstruiert. Die «verheerend für Schülerinnen und Schüler sein kann, weil viele nicht sehen, dass nur bewertet wird, eine bestimmte Aufgabe auf eine bestimmte Art und Weise zu lösen. Sondern sie nehmen Noten als Bewertung ihrer Person wahr», sagt Wampfler. Die Fixierung auf Zensuren erschwere sinnstiftendes Lernen.

Gibt es Alternativen zu klassischen Zensuren?

Das sieht auch der Präsident des Lehrerverbandes ähnlich: «Eine Lehrkraft hat ihren Beruf verfehlt, wenn sie in der Vergabe von Noten ihre wichtigste Aufgabe sieht.» Meidinger appelliert aber auch besonders an die Eltern, Noten eine geringere Bedeutung beizumessen. Grundsätzlich sieht er jedoch keine Alternative zu ihnen. Eine Lösung, die nicht ebenfalls Ungerechtigkeiten enthalte, gebe es nicht, meint er.

Das sieht Wampfler anders. Er plädiert für Portfolios, in denen die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeit und ihr Lernen dokumentieren und über die sie regelmäßig mit der Lehrkraft reden. In diesem System sollten Tests eine Rolle spielen, bei denen Kompetenzen nachgewiesen werden. «Wenn du es nicht kannst, dann kannst du noch mal üben. Und wenn du dann bereit bist, zeigst du, dass du es kannst. Anschließend kannst du es für dich abhaken – und gehst weiter», erklärt der Pädagoge.

«Sprechen übers Lernen» etablieren

Ein zentrales Problem des bestehenden Systems sei, dass man die Lernenden vom Urteil anderer abhängig mache. «Ich müsste ja eigentlich, wenn ich eine Leistung erbracht habe, auch selber darüber nachdenken. Wie gut war das jetzt? Womit bin ich zufrieden? Was würde ich gerne anders machen?», sagt Wampfler. «Wenn man solche Gespräche institutionalisiert und sagt: Wir sprechen übers Lernen – dann wäre das ein guter Weg.»

Dass es bis dahin auch ein weiter Weg wäre, dessen ist sich Wampfler bewusst. Er weiß um die Vorbehalte und Ängste gegenüber einem System ohne Noten. Und um die fehlenden Ressourcen. «Es ist heute schon zu wenig Zeit, um alles seriös zu machen. Jetzt nehmt nicht auch noch die Noten weg, die sind sehr effizient und komprimiert», höre er, so der Pädagoge. Zahlreiche Lehrkräfte hätten viel Energie investiert zu lernen, wie man Noten mache, ohne sich Probleme etwa mit Eltern einzuhandeln.

Lehrkräfte und Eltern müssen umdenken

Damit Schule ohne Noten funktionierte, müsste die Ausbildung von neuen Lehrkräften anders gestaltet werden. Und es bräuchte viel Weiterbildung für die etablierten. Auch die Eltern müssten umdenken und sich von der vordergründigen Sicherheit der Ziffern verabschieden, die ihr Kind bekommt.

«Wenn sich die Noten im Bereich der Erwartungen bewegen, denken die Eltern: Die Schule macht das gut und das Kind macht das gut», so Wampfler. Durch Portfolios und an Kompetenzen orientierten Tests könne man erreichen, dass für die Eltern auch ohne Zensuren nachvollziehbar sei, wie es läuft.

Wampflers Resümee: Keine Wunder erwarten. «Man muss beginnen, in der Schulpraxis Noten weniger Bedeutung zu geben. Ich versuche beispielsweise, nie ein Gespräch zu führen, in dem ich auf Noten eingehe – außer ich werde gefragt. Sonst verweise ich nie darauf, sondern ich versuche übers Lernen zu sprechen.»

Literatur:

Philippe Wampfler, Björn Nölte: Eine Schule ohne Noten, hep 2021. ISBN-13: 978-3-0355-1966-2

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