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Kinder vor «bösen Menschen» warnen?

Von Eva Dignös, dpa

Ab dem Schulalter sind Kinder zunehmend ohne ihre Eltern unterwegs. Wie bereitet man sie darauf am besten vor? Welche Regeln sollten sie kennen? Und: Warum ist das Wort «Nein» so wichtig?

Silvia Marks/dpa Themendienst/dpa-tmn

Die größte Angst der meisten Eltern ist, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte. Und die größte Herausforderung, sie trotzdem mit jedem Lebensjahr ein bisschen mehr loszulassen. Sie immer weitere Wege allein gehen zu lassen und auszuhalten, dass man sie nicht mehr ständig im Blick hat.

Es ist nicht leicht, das Kopfkino auszuschalten. Man weiß schließlich, was alles passieren könnte, hat die Meldungen dazu oft genug gehört und gelesen. Und sorgt sich, dass jemand dem Kind etwas antun, seine Neugier und Offenheit ausnutzen könnte, um es in eine Falle zu locken. Und zugleich möchte man ihm genau das nicht nehmen, das Grundvertrauen und die Zuversicht, möchte keine unnötigen Ängste wecken.

Wie also bereiten Eltern ihr Kind am besten vor auf die ersten selbstständigen Unternehmungen, den Weg zur Schule, zu Freunden, zum Spielplatz, zum Sport?

«Wir müssen Kinder selbstbewusst machen», betont Steffen Claus. Seit mehr als 20 Jahren ist er in der polizeilichen Prävention tätig. Obwohl der Polizeihauptkommissar längst im Ruhestand ist, geht er immer noch als «Kinderpolizist» in Kitas und Grundschulen in Sachsen-Anhalt, um mit den Kindern zu üben, wie sie sich in gefährlichen Situationen richtig verhalten.

Die meisten Täter stammen aus dem vertrauten Umfeld

Der «böse, fremde Mann», vor dem Generationen von Eltern ihre Kinder gewarnt haben, sei «in den seltensten Fällen der Täter», sagt Claus. «Der wirkliche Bösewicht ist ein lieber, netter Mensch, der keine Gewalt anwendet und mit der kindlichen Neugier spielt.»

Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik belegen das. Demnach haben fast zwei Drittel der betroffenen Kinder eine soziale Beziehung zum Täter oder zur Täterin: Es sind Verwandte, Freunde, Trainer, Gruppenleiter. «Fremdtäter, die Kinder beispielsweise auf der Straße ansprechen», seien selten.

Kindern beizubringen, dass sie nicht mit Fremden mitgehen dürfen, hält Steffen Claus deshalb für wenig sinnvoll. «Denn das impliziert, dass sie mit jemandem mitgehen dürfen, den sie kennen.» In seinen Kursen gibt er Kindern folgende Leitsätze mit: «Ich gehe nicht mit, ich fahre nicht mit, ich gehe zu niemandem in die Wohnung. Meine Eltern müssen wissen, wo ich bin.»

Kinder seien auch nicht verpflichtet, unbekannten Erwachsenen Auskunft zu geben, nicht über den Weg zur U-Bahn und erst recht nicht darüber, wie sie heißen und wo sie wohnen.

Kinder müssen «Nein» sagen dürfen

Auf ein kleines Wort kommt es an, damit das in der Praxis tatsächlich funktioniert: «Kinder müssen ‚Nein‘ sagen dürfen», betont Claus. Und zwar nicht nur gegenüber fremden Personen, «sondern auch wenn Tante Frieda sie wieder abschmatzen will».

Auch Doris Krusche hält es für ganz entscheidend, Kindern zu vermitteln, dass ihr «Nein» gehört und akzeptiert wird. Sie ist eine der beiden Geschäftsführerinnen des Münchner Vereins «Kostbar e.V.», der seit 2002 Selbstbehauptungskurse für Vorschulkinder und Beratung für Eltern und pädagogische Fachkräfte anbietet. «Eltern sollten Kindern von klein auf beibringen: Du kannst mitreden, wir nehmen dich ernst, du darfst gegenüber anderen Erwachsenen kritisch, vorsichtig und selbstbewusst sein», sagt die Pädagogin.

Drei weitere Leitsätze hält sie neben dem «Nein» in der Präventionsarbeit für entscheidend: «Mein Körper gehört mir, ich habe keine Schuld, ich darf mir Hilfe holen.» Das gelte es den Kindern zu vermitteln – und weniger das Verhalten in konkreten Situationen einzuüben. «Denn wenn das Kind dann eine etwas andere Erfahrung macht, hat es dafür keine Handhabe.»

Der Verein hat in der Corona-Zeit zusätzlich ein Online-Training entwickelt. Der Film enthält auch Übungen und gibt Anregungen für Gespräche zwischen Eltern und Kindern.

Gute Kurse stärken vor allem das Selbstvertrauen

Gute Selbstbehauptungskurse für Kinder erkenne man daran, dass sie den Fokus weniger auf konkrete Abwehrtechniken und mehr auf eine Stärkung des Selbstvertrauens legen, heißt es auch bei der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes, die Eltern im Rahmen der Kampagne «Missbrauch verhindern» umfangreiches Infomaterial an die Hand gibt.

Seriöse Kursangebote erkenne man daran, dass mit Fachleuten zusammengearbeitet und die Eltern eingebunden werden. Denn Kinder stark zu machen – das könne ein einzelner Kurs nicht leisten, das bleibe Aufgabe der Eltern.

«Kinderpolizist» Steffen Claus arbeitet vor allem mit den Märchen der Gebrüder Grimm. «Die Märchenhelden müssen permanent Konflikte lösen. Und es geht immer gut aus», erklärt er. An der Geschichte vom Rotkäppchen zum Beispiel lasse sich auf kindgerechte Weise verdeutlichen, welches Verhalten schlau ist – und welches nicht: Nicht auf dem vereinbarten Weg zu bleiben zum Beispiel und sich vom Wolf ausfragen zu lassen über Dinge, die Fremde nichts angehen.

Und was ist schlau? «Weglaufen schützt immer», sagt Claus, «deshalb versuche ich den Kindern zu vermitteln, dass Weglaufen nicht feige, sondern klug ist.» Und dass es wichtig ist, mit den Eltern über Erlebnisse zu reden, die einem seltsam vorkommen.

Denn Prävention ist auch immer eine Frage von Vertrauen zwischen Eltern und Kindern: «Wenn Kinder spüren, dass ihre Eltern ihnen etwas zutrauen, wenn sie bestärkt werden, Dinge selbstständig zu machen», sagt Doris Krusche, «dann erleben sie, dass sie wahrgenommen und gehört werden.» Und wissen, dass sie sich in schwierigen Situationen ihren Eltern anvertrauen können.

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